Ich sitze gerne in Cafès. Bevorzugt alleine. Besonders im Sommer, draußen. Da macht es mir ein großes Vergnügen, den Menschen zuzuschauen, die auf der Straße vorbei gehen und meinen Gedanken nachzuhängen. Ich liebe den Klangteppich, der sich aus den Gesprächen der anderen Gäste, dem Gebrumme der Kaffeemaschine und den Geräuschen der Stadt webt. Der herbe Geschmack des Kaffee Creme entspannt mich in Sekundenschnelle und lässt mich tief durchatmend zurücklehnen.

Da freu‘ ich mich an dem liebevollen und zugleich stolzen Blick der Mutter, die ihrem Baby im Kinderwagen den Schnuller in den Mund steckt und schau ein bisschen belustigt (und vielleicht auch etwas schadenfroh) dem jungen schlaksigen Mann zu, der einen riesigen Stapel Bücher balanciert und auf dem Weg in die Unibibliothek ist. Abschlussarbeit. Der hat wohl ganz schön Stress. Ein bisschen wenig geschlafen in letzter Zeit. Die Schatten unter seinen Augen sprechen Bände.

Merkwürdig leere, ausdruckslose Augen – das erinnert mich an einen Kollegen, den ich sehr schätze. Sein Bild klebt mir seit einigen Wochen an der Seele. Da sehe ich ihn wie eingeklappt vor mir sitzen, seine Augen ganz anders als sonst. Dunkel wie immer, aber irgendwie viel tiefer, zugleich flehend und unglaublich Distanz schaffend. Seine Stimme schriller und schneller als ich sie kenne, mit gänzlich belanglosen Worten. Sein Vater ist kürzlich gestorben. Hmmm…. Trauer. Ja, das kenne ich. Das kenne ich gut. Und während ich in einem Gefühlsstrudel von Schmerz und Zärtlichkeit versinke, weckt mich der überaus smarte Kellner aus meinem Tagtraum. Ob’s denn noch was sein darf. Allein dafür hat er sein Trinkgeld verdient. Es ist gut, dass er mich in die Realität zurück holt. Mein Kaffee ist inzwischen kalt geworden und ich bestelle gerne noch einen zweiten. Mit einem großen Glas kaltem Wasser.

Und mich bringt diese Szene arg ins Nachdenken: Woher meine ich eigentlich zu wissen, dass in dem Kinderwagen ein Baby liegt? Sehen kann ich das nicht, erst recht nicht, dass die Frau, die den Kinderwagen schiebt, eine Mutter ist. Was ich sehen kann ist, dass eine Frau einen Kinderwagen schiebt und mit ihrer Hand irgendwas im Inneren dieses Kinderwagens berührt. Und warum meine ich, dass sie stolz ist und liebevoll? Was ich sehen kann, sind Muskelbewegungen in ihrem Gesicht – die ich als Stolz und Mutterliebe deute. Weil es naheliegend ist. In meinem Kopf ergibt sich aus diesen Wahrnehmungen eine – für mich – stimmige Geschichte, gespeist aus meinen Erfahrungen und meinen Glaubenssätzen über Mütter und ihre Kinder. Eine Geschichte, die für mich so selbstverständlich wahr ist, dass ich im Normalfall gar nicht auf die Idee käme, dass die Realität ganz anders sein könnte.

Und der gestresste Typ mit seinen Büchern – vielleicht trägt er die Bücher seines Professors zurück und hatte letzte Nacht viel Spaß und gar keinen Stress. Kann mir ja auch egal sein. Ein bisschen schäme ich mich für meine Schadenfreude. Das was ich mir da gedacht habe, erzählt wohl mehr von meinen Erfahrungen mit akademischen Qualifikationsarbeiten, mehr von meinem Stress und meinem Schlafmangel als von dem jungen Mann.

Mit meinem Kollegen und mir ist es wohl auch so. Ich war so in meiner emotionalen Wirklichkeit gefangen, dass ich das Naheliegenste unterlassen hatte: zu fragen „Wie geht es Dir?“. Ich meinte zu wissen. Und dieses gemeinte Wissen hat ein Bild, eine Vorstellung in mir konstruiert, das zwischen ihm und mir steht. Die vermeintliche Sicherheit macht mich unsicher, wie ich ihm demnächst begegnen soll. Meine Lebenserfahrung verhindert neue Erfahrung. Blöde Sache. Allerdings ziemlich normal. Jedenfalls für Menschen.

Wie wäre es denn, wenn ich jeden sinnlichen Reiz ungedeutet und damit unbewertet wahrnehmen würde? Wahrscheinlich der emotionale Overkill. Die absolute Überforderung. Die Unmöglichkeit ein halbwegs geordnetes Leben in dieser Welt zu führen.

Was ich in meinem Leben erlebt habe und v.a. die sinnvollen Deutungen, die ich diesen Situationen verliehen haben machen meine Persönlichkeit – prägen meine innere Landkarte. Sie sind meine Wirklichkeit, in der ich lebe. Und manchmal auch ziemlich unabhängig von der sinnlich erfassbaren Realität. Sie geben Sicherheit und filtern Wahrnehmungen so gründlich, dass mir viele Informationen entgehen. Glücklicherweise. Manchmal glücklicherweise – weil: Was will ich schon wirklich von dem Menschen wissen, der mir meinen Kaffee bringt? Dass er aufmerksam und sympathisch rüber kommt, reicht mir für mein Ziel, einen schönen Nachmittag im Café zu verbringen, vollkommen aus. Allerdings nicht immer glücklicherweise. Wenn ich etwas Neues kennen lernen will oder mit einem Menschen wirklich in Kontakt kommen will, ist es ausgesprochen hinderlich, da erweisen sich die entlastenden Sicherheiten manchmal als ziemliche Stolpersteine. Erst recht, wenn es – wie in Coaching und Supervision – darum geht, Ziele in die Wirklichkeit zu stellen und noch verborgene Möglichkeiten zu realisieren. Da ist es gut, möglichst viele Informationen zur Verfügung zu haben – und mit einer Haltung des Nicht-Wissens ran zu gehen. Denn Wissen macht in gewisser Weise ganz schön dumm.

Eine prächtige und ausgesprochen lustvolle Übung, für Einzelne, Gruppen und Teams, ist es, sich die Welt für eine kurze Zeit so anzuschauen, wie sie ein Alien sehen würde, der eben erst mit seinem Raumschiff gelandet ist und hier im Raum die Erde betritt: Neugierig und gänzlich unwissend. Ein Alien ent-deckt das, was da ist: Er sieht, hört und fühlt alles zum ersten Mal – ohne von dessen Bedeutung und Funktion zu wissen. Er kann nicht vergleichen, nicht bewerten. Er kann nichts erwarten, er hat ja keinen Vergleichspunkt. Alles bringt ihm zu ehrfürchtigen Staunen. Da gibt es kein richtig und kein falsch, keine Angst, keine Vorsicht. Und vielleicht gibt es nicht mal ein Wissen über sich selbst – für eine kleine Weile, die eigene Lebenserfahrung vergessen und nur da sein – zu Gast in einer fremden Welt.

Für eine Beraterin ist diese Übung noch mehr als ein anregendes Experiment. Das Nicht-Wissen des Coach ist eine Haltung, die es möglich macht, dass sich Veränderungsräume auftun, dass sich die Möglichkeiten zeigen, die in einem Problem verborgen sind. Umso mehr der Coach auf sein Wissen um Veränderung und die Welt verzichten kann, umso wahrscheinlicher wird es, dass der Coachee neue Informationen generiert und das findet, was er sucht. Lösungen erdenkt und erspürt, die längst schon in ihm leben – sonst könnte er ja sein Problem, also den Mangel an dieser Lösung, nicht wahrnehmen. Der Coach muss sich sozusagen ein bisschen zum Alien machen, seine Lebenserfahrung, sein mühsam erworbenes Wissen um das „so gehts“ aufgeben und seine Unsicherheit, die daraus entsteht, aushalten. Den Menschen, der vor ihm sitzt, so sehen, wie er sich zeigt. Ohne Interpretations- und Ergänzungsbedarf – frei und offen für den Augenblick. Zeuge zu sein, achtsam und aufmerksam, für Veränderungen die hörbar, spürbar, sichtbar sind und die die Handlungswege und Ziele des Coachee aufscheinen lassen, die er selbst alleine vielleicht nicht wahrnehmen kann.

Nun sind Menschen keine Aliens, jedenfalls nicht wirklich. Ein Mensch ist nur bedingt dazu in der Lage, Sinneseindrücke nicht zu filtern und zu deuten. Menschen brauchen innere Landkarten zu ihrer Orientierung. Natürlich auch Coaches. Aber dennoch: Die Übung, den Coachee einfach nicht zu verstehen, einfach nicht zu wissen, was Sache ist, ist lohnenswert. Sie weitet die Wahrnehmung auf das Neue, das Mögliche, das Unvergleichliche – und ermöglicht beziehungsreiche Interaktion zwischen Coach und Coachee.

Und: Das macht es möglich, den Kollegen einfach mal zu fragen „Wie geht es Dir?“. Unter Umständen mit überraschenden, unglaublichen und verwirrenden Antworten.

Mein Coach ist ein Alien
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