Den Satz kennt wohl jeder, der schon einmal versucht hat, Veränderungen in einer sozialen Einrichtung, in einer Schule oder einem Kindergarten, anzuregen: Normalerweise hört man das ja auf den „Zeit“-Ohr: Der Kollege, die Mitarbeiter/in hat zu wenig (zeitliche) Ressourcen, um etwas Neues auszuprobieren oder versteht halt einfach nicht, dass gar nicht mehr Aufwand als bisher anfallen wird, sondern „es nur anders“ wird und dass dafür ja auch Sachen wegfallen werden.

Lernen heißt Veränderung – Veränderung heißt Lernen

Wenn eine Leitung nach einem Weg sucht, mit dieser Haltung sinnvoll umzugehen heißt die schnelle Antwort oft: „Du musst die Leute mitnehmen, in Ihnen die Sehnsucht wecken und ihnen helfen ihr ‚Warum‘ zu klären!“ Ja… Die große Vision zieht und trägt. Keine Frage…

Aber zum einen ist das nicht das Allheilmittel und zum anderen müssten Mitarbeitende dazu auch erstmal bereit sein.

Veränderung macht Angst und Stress. 

Da hat die große Vision vielleicht ein bisschen Zeit… Eine wirklich große Vision läuft auch nicht davon. Ganz im Gegenteil.

Ich glaube, Mitarbeiter/innen, die so reagieren verstehen sehr gut, was in der Luft liegt, woher der Wind weht und was auf dem Spiel steht, wenn es um Veränderung geht.

Und ich glaube: Der Mitarbeiter reagiert sehr normal und sehr gesund

Auch wenn’s nervt. Mächtig nervt. Unglaublich nervt, dieses Jammern immer und immer wieder zu hören.
Aber auch das ist ein Hinweis. Eine immer und immer wiederholte Markierung: Hey, hallo! Dazu bin ich noch nicht bereit! Das was Du von mir willst, macht mir Angst.

Ich kann es durchaus verstehen, weshalb da so manche Leitung genervt ist und mit immer mehr Nachdruck versucht, ihre Idee durchzusetzen. Ich glaube, maskierte Angst macht oft aggressiv. Wird als Abwehr gedeutet, die ein mehr an Bemühen provoziert. 

Aber was passiert dann häufig? Der Ton und das – an sich gute – Miteinander werden immer gereizter und aggressiver: Fronten tun sich auf – bis gar nichts mehr geht und der Impuls zur Veränderung im Sand verläuft.

An der Schwelle von der Komfort- zur Wachstumszone

Schlauer scheint es mir, die Perspektive zu wechseln und ein bewährtes (lerntheoretisches) Modell zu nutzen, das einen solchen Satz wie „Was sollen wir denn noch alles machen?“ als Stressreaktion beim Übergang von „der Komfortzone zur Lernzone“ betrachtet.

Dieses Modell geht von einer sehr klaren Annahme aus: Menschen haben sehr subjektive Grenzen, die mit objektiven Argumenten nur sehr wenig zu tun haben. Der Übergang von der Komfortzone in die Lern- und Wachstumszone ist krisenhaft und braucht wohlwollende Unterstützung.

Was ist die Komfortzone?

Im Alltag leben wir gerne so, dass wir mit allem gut zurecht kommen. Wir richten uns unsere Welt so ein, dass wir wissen, was los ist und „wie der Laden läuft“ – selbst wenn das unerfreulich oder gar unerträglich ist. Im besten Fall fühlen wir uns da wohl und sicher, wir kennen uns aus.

Hier gibt es keine (unliebsamen) Überraschungen, alles ist vertraut bekannt, beherrschbar. 

Um an diesen vertrauten Orten mit den bekannten Personen routiniert zu handeln fällt mir leicht, ich muss nicht nachdenken oder mich anstrengen: Ich mache das, was ich immer schon gemacht habe und deshalb fühle ich mich sicher – selbst-sicher. 

Die Komfortzone ist die Interaktionszone, die mich und meine Persönlichkeit schützt und auch nach Außen hin eine schützende Grenze aufweist. Da weiß ich, wer ich bin und was ich kann, fühle mich richtig und wichtig. Ich kenne die Leute, mit denen ich zu tun habe und weiß, wer mich mag und unterstützt – und wem ich besser aus dem Weg gehe. Mit meinen Erfahrungen und mit meinem Wissen kann ich hier meine Fähigkeiten und Stärken optimal nutzen. Interaktion mit anderen fällt mir leicht. 

Ein wunderbarer Ort des Vertrauten und absolut notwendig für den Alltag.

Eigentlich gibt es keinen vernünftigen Grund, diese Komfortzone zu verlassen. 

Aber: Der Mensch ist nicht dafür gemacht

Der Mensch ist nicht dazu gemacht, es sich dauerhaft bequem zu machen: So wie der Körper immer wieder neue (Trainings-)Reize braucht, brauchen auch Geist und Seele herausfordernde Aufgaben: Der Mensch ist – wenn er wirklich glücklich sein will – auf Entwicklung angewiesen. Wer immer in der Komfortzone verharrt, dessen Energie sinkt, Neugierde und Lernbereitschaft treten in den Hintergrund, die Kreativität schwindet.

Und außerdem: Die Welt um uns herum verändert sich ständig

Das was gerade eben noch so war, dass meine Routinen und Denkweisen perfekt die Herausforderungen aufgenommen und beantwortet haben, ist bald nicht mehr so. Es stellen sich neue Aufgaben und Anforderungen – und wenn ich meine Ziele und Aufträge erfüllen will, muss ich lernen, mich verändern: neugierig Neues ausprobieren und vielleicht auch erstmal scheitern. Weil sich die Umwelt beständig verändert, muss ich neue Erfahrungen machen und meine gewohnten (Denk-, Handlungs-, Bewertungs-)Muster aufgeben und neu ent-wickeln. Ich muss lernen. Das ist in der Komfortzone nicht möglich: grundlegend neue Erfahrungen können hier nicht gemacht werden. Das gilt für jede einzelne Person, aber natürlich auch für Teams und ganze Organisationen.

Wer sich nicht verändert stirbt. Klingt drastisch. Ist es auch: Wer sich nicht verändert passt irgendwann nicht mehr in die Welt, die ihn umgibt. Er macht sich damit überflüssig und nutzlos. 

Für das Altern von Menschen haben wir da gute und wichtige Mechanismen: Wer alt wird, darf sich der steten Veränderung im Außen verwehren (muss es aber nicht) und darf das alt gewohnte so tun, wie er es möchte. Meine Mama muss kein Smartphone benutzen und keine Emails von mir lesen. Das ist in Ordnung so – auch wenn ich mir Whats app für sie wirklich wünschen würde. Altern steht bei uns unter einem ähnlichen Schutz wie das Heranwachsen der Kinder. Und das ist wirklich sehr gut so.

Bei Organisationen und in beruflichen Kontexten ist das ein bisschen anders: Wenn sich Teams oder ganze Organisationen nicht an eine veränderte Welt anpassen wollen, wenn sie den Ruf des Neuen nicht hören, the wind of change nicht spüren – werden sie bedeutungslos. Nutzlos. Organisationen, die die Veränderung im Außen nicht wahrnehmen, können ihren Auftrag nicht mehr erfüllen und werden so überflüssig.
 

Der Ruf des Neuen irritiert das System

Eine Leitung, die eine neue Idee ins Team einbringt, tut genau das: Sie weist darauf hin, dass eine Veränderung notwendig ist; darauf, dass sich die Rahmenbedingungen geändert haben, so dass es sinnvoll ist, das eigene Handeln zu verändern – damit die Aufgabe der Einrichtung weiterhin gut erfüllt werden kann; drauf, dass neue Anforderungen zu bewältigen sind.

Und das sorgt für Irritation, Verunsicherung und ein kleines bisschen Chaos.

Das ist gut so.

In der Wachstumszone sind neue Erfahrungen möglich: Lernen und Veränderung

Wenn Organisationen, Teams, Einzelpersonen den Schritt über die Grenze gehen, die Komfortzone verlassen und die Wachstumszone betreten, ist das eine Anstrengung. Das macht Angst. Das ist Stress.

Das macht keiner einfach so.

Der Übergang von der Komfort- in die Lernzone macht Angst:  Angst davor, „es nicht zu schaffen“, weil es zu anstrengend ist oder man dabei Fehler machen könnte. Angst vor Ablehnung, nicht mehr dazu zu gehören, wenn man angesichts der neuen Herausforderungen „versagt“ und Fehler macht. 

Diese Angst gehört zum Lernen und zur Veränderung. Deshalb braucht jede Veränderung eine wohlwollende und liebevolle Begleitung, damit aus der Unsicherheit der „Lernzone“ nicht die vernichtende Verzweiflung der „Panikzone“ wird. Denn: Panik, wirkliche Überforderung, ist zu vermeiden! Die hilft keinem weiter. 

Panik hilft niemanden weiter

Ich meine, dieses Modell erklärt so mancherlei:

Zum einen das bekannte Phänomen, dass Menschen oft nicht merken, was „dran“ ist und sie lieber in einer friedhöflichen Ruhe, im Wohlbekannten, im „das haben wir immer schon gemacht und das war immer schon gut“ verharren. Was ja auch oft stimmt. Oder besser: Was auch stimmte und mit einer veränderten Anforderung von Außen nun nicht mehr stimmt. 

Hier gilt es das Alte zu würdigen: Es war ja wirklich gut. Zu seiner Zeit.
Und es gilt den Übergang zum Neuen freundlich zu begleiten und in dieser Zeit der irritierten Unsicherheit Sicherheit zu geben.

Und dennoch deutlich das Neue einzufordern, als Leitung, als Organisation darauf zu drängen, dass Neues ausprobiert wird.

In gewisser Weise ist es die Aufgabe einer Leitung in einer solchen Lern-Zeit die Unsicherheit zu kultivieren und das „Nichtwissen“ mit der Spontanität und Neugier eines Clowns – oder einer Pippi Langstrumpf – zu leben und sich an ihr zu freuen.

Das ist die Botschaft an die Mitarbeiter/innen: „Wir wissen nicht wie es geht – und deshalb können wir daran nicht scheitern.“ Es geht um eine lustvolle Experimentier-Freude. Um ein Handeln, als gäbe es kein Gestern. Wohl wissend, dass aus diesem Gestern jede Menge Fähigkeiten, Ressourcen und Erfahrungen vorhanden sind, die beim Neuen hilfreich sein werden. 

Irrritation, Angst und Unsicherheit gehört zu jedem Lern- und Veränderungsprozess. Das ist sicher unangenehm, aber auch sehr wichtig: Aus einer angenommenen Angst und Unsicherheit wächst – beim Einzelnen, in Teams und in Organisationen – Selbstvertrauen, echte Selbst-Sicherheit und lebendige Spontanität. Die besten Voraussetzungen, damit Neues gelingt. 

Veränderung braucht einen Mentor, der Unsicherheit wertschätzt und begleitet

Was auch sehr klar ist: Das erzeugt Widerstand. Widerstand ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Widerstand zeigt sich immer dann, wenn etwas Wichtiges im Gange ist.

Widerstand zeigt, dass das System irritiert ist und in Schwingung geraten ist – manchmal fühlt sich das wie eine Erschütterung an, Verunsicherung und Verwirrung sind an der Tagesordnung. Das Alte löst sich langsam auf und das Neue ist noch nicht wirklich in Sicht. 

Veränderung ist Stress

Lernprozesse sind Stress. Stress führt zu tiefsitzenden – unbewussten – Reaktionen. Zu Starre, Flucht oder Angriff. Und das fühlt sich unangenehm an! 

Übrigens: Das ist auch im körperlichen Sinn Stress: der Hormoncocktail ist frisch gerührt und schüttelt den ganzen Menschen durch. Mit allem, was dazu gehört. Das ist für den Organismus eine Krise.

Da fallen eben so Sätze wie „Was sollen wir denn noch alles machen?“, „Dafür habe ich keine Zeit!“ Und in den seltensten Fällen ist damit eine wirkliche (zeitliche) Mehrarbeit gemeint. 

Das ist der beste Indikator dafür, dass ein Einzelner, ein Team, eine Organisation am Rand der Wachstumszone steht, die als Lernbereich die Komfortzone umgibt: Hier gibt es nur wenig Sicherheit – die Möglichkeit an einer Aufgabe zu wachsen ist unbequem, scheint unsicher und v.a. ist es unvorhersehbar, was geschehen wird. In dieser Terra incognito besteht die Möglichkeit an einer Aufgabe zu wachsen und Neues über sich und das Leben zu lernen. Hier in der Lernzone sind NEUE Erfahrungen möglich.

Den Schritt zu tun um Neues zu wagen kostet Überwindung und bedeutet erstmal Anstrengung. 

Natürlich ist der Schritt ins unbekannte herausfordernde neue Land aufregend und riskant: Es gibt keine Garantie dafür, dass die Erfahrungen, die hier gemacht werden, positiv sind. Es bleibt immer das Risiko zu scheitern – das Risiko (subjektiv gefühlt) zu versagen. Es ist eben wirklich „ganz dünnes Eis“ am Beginn des Neuen. 

Doch sehr verständlich, dass das Angst macht.

Und weil das nicht nur verständlich ist, sondern vielleicht auch sehr gesund kann man dem Zaudern und Zögern an der Schwelle zum Neuen mit Freundlichkeit, Zärtlichkeit und Wohlwollen begegnen.

Das ist die Handlungsalternative für diejenige, die die Idee der Veränderung hat: anstatt mit immer mehr Vehemenz und Dringlichkeit, Genervtheit und Aggression zu agieren, Mitarbeitenden helfen, sich zuzutrauen, diesen Schritt zu gehen, in der Lernzone „über sich hinaus zu wachsen“ und Abläufe neu zu organisieren.

Willkommen in der Wachstumszone

Im Bild gesprochen ist es die Aufgabe der Leitung, im Bewusstsein, dass Veränderung Angst macht und Stress bedeutet, den verunsicherten Mitarbeiter/innen eine Tasse Lavendeltee zu machen und mit ihnen zusammen die Spannung zwischen dem sicherem Alten und dem bedrohlich wirkenden Neuem auszuhalten – mit einem freundlichen Blick auf das was war und auf das, was kommen wird. Im sicheren Wissen um die Kompetenzen der Mitarbeiter/innen und deren Fähigkeit, den Stress zu bewältigen.

Diese metaphorische Tasse Lavendeltee kann übrigens auch sehr gut ein Supervisionsprozess sein: Gerne mit mir!

Mein Name ist Heike Kellner-Rauch, ich unterstütze als Supervisorin und Berufliche OnlineBeraterin Menschen, die mit Menschen arbeiten dabei, mit Lust und Leidenschaft ihre Arbeit zu gestalten.

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„Was sollen wir denn noch alles machen?“